Archivbeitrag
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Am 22.10.2019 ist der Verein Phelan-Mc-Dermid-Gesellschaft e.V. zu Gast in unserer Komplex-Kindertagesstätte „Schatzkiste“. Anlässlich des Internationalen Phelan-McDermid-Tages wird Frau Ott für Fragen, mit vielen Informationen und aufklärenden Gesprächen für Interessierte im Eingangsbereich der Kita zur Verfügung stehen. Zusätzlich wird es einen kleinen Flohmarkt und einen Kuchenbasar geben. Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

Informationen zum Verein:  www.22q13.info

Plakat Phelan McDermid Syndrom Awareness Day 22.10.2019

Interview mit Julia Ott, Vereinsmitglied der Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. und Mama von Ben

Foto von Ben

Julia Ott ist 34 Jahre alt und hat gemeinsam mit Ihrem Mann Benjamin Ott (30 Jahre) einen fast 3-jährigen Sohn. Sein Name ist Ben. Sie spricht offen über Ihren Alltag als Mama eines Sohnes mit dem Phelan-McDermid-Syndrom und möchte durch ihr Engagement in der Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. dazu beitragen, Betroffene zu unterstützen und auf eine frühzeitige genetische Untersuchung bei Kindern mit ähnlichen Symptomen hinweisen.

Am 22.10.2019 zum internationalen Phelan-McDermid-Tag organisiert sie in der Komplexkindertagesstätte „Schatzkiste“ einen Info-Nachmittag mit Flohmarkt und Kuchenbasar. Sie möchte hier mit Interessierten und Betroffenen ins Gespräch kommen und vor allem aufklären. In einem Interview gibt Sie uns einen Einblick in Ihr Familienleben und Ihre Vereinstätigkeit.

Liebe Frau Ott, können Sie uns ein wenig über sich und Ihre Familie erzählen, um Sie etwas besser kennenzulernen?

„Seit 2015 bin ich mit meinem Mann verheiratet, unser Wunschkind Ben kam 2017 zur Welt. Er ist unser erstes Kind, Geschwister hat er noch nicht. Ich arbeite beim Kommunalen Sozialverband Sachsen als Sachbearbeiterin für Eingliederungshilfe behinderter Menschen, mein Mann ist Soldat bei der Bundeswehr und außerdem stellvertretender Vorsitzender des Elternrats der „Schatzkiste“. Wir wohnen in der Leipziger Südvorstadt und haben außerdem noch einen Kleingarten in Thekla. Dort tobt Ben gern noch ein bisschen nach der Kita.

Vor der Geburt unseres Sohnes habe ich studiert. Wir haben uns immer ehrenamtlich engagiert (Freizeitassistenz im Betreuten Wohnen, Wahlhelfereinsätze, Freiwillige Feuerwehr) und wir sind viel gereist. Auch mit Kind sind wir sehr unternehmungslustig und aktiv. Ausflüge in den Wildpark, Urlaub im Erzgebirge bei der Oma, zum Flughafen oder in den Wald mit dem Fahrrad.“

Sie haben sich dafür entschieden, mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Was hat sie dazu bewogen?

„Mein Kind. Wir wollen, dass das Phelan-McDermid-Syndrom bekannter und in der Gesellschaft akzeptiert wird. Generell gehören Menschen mit Behinderung nicht an den Rand, sondern in die Mitte der Gesellschaft. Außerdem sollte frühzeitiger eine genetische Untersuchung bei bestimmten Symptomen durchgeführt werden. So geht man zum Beispiel davon aus, dass 1% aller mit Autismus-Spektrum-Störungen diagnostizierten Menschen das Phelan-McDermid-Syndrom haben. Die Einschränkungen des Syndroms sind viel facettenreicher und unterschiedlich ausgeprägt und können oder sollten daher auch anders gefördert werden.

Das Phelan-McDermid-Syndrom ist ein seltener Gendefekt, bei dem eine Deletion am langen Arm des Chromosoms 22 vorliegt. Die Symptome sind oftmals: globale Entwicklungsstörungen meist einhergehend mit geistiger Behinderung, mangelnde Sprachentwicklung, Muskelhypotonie (Muskelschwäche), bei ca. 80% der betroffenen Kinder Frühkindlicher Autismus und motorische Hyperaktivität.

Das Syndrom ist ausschließlich mittels genetischer Untersuchung diagnostizierbar, welche zurzeit eher spät als früh durchgeführt wird. Bereits im Kleinkindalter ist es wichtig, die betroffenen Kinder richtig zu fördern und vor allem auf syndromtypische mögliche Organschädigungen (besonders Herz und Nieren) zu untersuchen.“

Wann wurde bei Ihrem Sohn Ben die Diagnose Phelan-McDermid-Syndrom gestellt und wie haben Sie diese aufgenommen?

 „Bereits ein halbes Jahr nach der Geburt von Ben stellten wir fest, dass er sich anders und viel langsamer entwickelte als gleichaltrige Kinder. Wir haben die Entwicklung von Ben im Rahmen der regelmäßigen U-Untersuchungen beim und mit dem Kinderarzt beobachtet und uns entschieden, ab dem 2. Lebensjahr das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) des Universitätsklinikums Leipzig aufzusuchen. Bei ersten Untersuchungen konnte keine Erkrankung festgestellt werden. Deshalb wurde dann die humangenetische Untersuchung eingeleitet. Die Diagnose haben wir dieses Jahr im April erhalten. Für mich war es erleichternd, endlich Gewissheit zu haben, was unser Sohn hat und wie wir ihn jetzt besser fördern, verstehen und unterstützen können. Alle Sorgen und Ängste, ob in der Schwangerschaft eine Unterversorgung stattfand, ob die Sepsis, welche Ben nach der Geburt hatte zu Hirnschädigungen geführt hat, ob Impfschäden Ursache waren oder wir als Eltern falsche Erziehungsmethoden angewendet haben, oder in irgendeiner anderen Weise schuld an seinen Einschränkungen sind, fielen von uns ab. Da wir nun wussten was Ben hat, haben wir umgehend recherchiert, Fachliteratur gelesen und einen Verein für betroffene Familien gefunden.“

Was hat sich seitdem in Ihrem Leben verändert?

„Unser Familienleben hat sich seitdem sehr entspannt. Wir geben Ben die Zeit die er braucht und können uns nun besser in ihn hineinversetzen. Durch entsprechende Förderung konnten wir viele Fortschritte erzielen und ihm durch vertraute Rituale und Abläufe Sicherheit geben. Wir waren oft überfordert und verzweifelt, was die Beziehung auch oft belastet und auf eine Geduldsprobe gestellt hat. Aber nun haben wir Sicherheit. Wir sind zuversichtlich, motiviert und positiv eingestellt. Wir haben viele Gespräche mit Familie und Freunden geführt, um auch ihnen näher zu bringen, welche Einschränkungen Ben hat und wie man am besten damit umgeht. Durch die Mitgliedschaft im Verein haben sich viele neue Bekanntschaften entwickelt.“

Inwiefern spielt die Behinderung im Alltag eine Rolle? Wie begegnen Ihnen Menschen in Ihrem Umfeld?

„Ben ist ein kleiner Wirbelwind und kann nicht lange ruhig halten. Da er keine Gefahren einschätzen kann, müssen wir immer hinterher sein. Es gab schon viele Verletzungen und wir mussten ihn oft trösten. Seit Ostern kann Ben endlich laufen, vorher ging es nur an der Hand. Treppensteigen klappt auch nur mit Hilfe. Auch beim Essen braucht Ben noch Unterstützung. Ben besitzt kein Sprachverständnis und kann nicht reden. Somit müssen wir oft seine Bedürfnisse deuten, was den Alltag sehr erschwert. Ben nimmt auf Grund eines syndromalen Autismus seine Umwelt kaum wahr, sucht keinen Blickkontakt und zeigt kein Sozialverhalten. Durch sein Syndrom müssen wir viele Arzttermine wahrnehmen, sei es zur Kontrolle, Förderung oder akuterweise auf Grund seiner Infektanfälligkeit. Dies raubt viel Zeit und Kraft. Für uns ist es deshalb wichtig, Rückhalt und Unterstützung aus der Familie zu bekommen. Dank verständnisvoller und familienfreundlicher Arbeitgeber ist es uns möglich, meistens die Arbeitszeit flexibel zu gestalten, damit wir alle Termine mit ihm wahrnehmen können.

Ben sieht man seine Behinderung nicht an, deshalb sind Menschen oft über sein Verhalten verwundert. Aber da er ein sehr fröhliches Kind ist, wird er von den meisten Menschen so akzeptiert wie er ist. Die wenigsten Berührungsängste haben aber tatsächlich die Kinder. Jedes Kind ist offen gegenüber Ben und fragt gezielt nach.

Seit der Diagnose haben wir auch eine andere Erwartungshaltung an ihn. Wir freuen uns über jeden kleinen Fortschritt den er macht, ohne Ben dabei mit gleichaltrigen Kindern zu vergleichen. Wir sind zwar auch manchmal traurig, dass er verschiedene Dinge nicht kann oder noch nicht kann, können aber inzwischen dank der Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. viel besser damit umgehen. Beim Familientreffen des Vereins im Sommer 2019 in Schwäbisch Gmünd haben wir viele betroffene Familien und Kinder mit demselben Gendefekt kennengelernt. Es war schön, dort auf großes Verständnis zu stoßen und mal nicht die besondere Familie zu sein, sondern eine unter Vielen. Auch dass man nicht ständig alles erklären oder sich für gewisse Verhaltensweisen rechtfertigen muss, erleichterte den Alltag.“

Ihr Sohn besucht die Komplexkindertagesstätte „Schatzkiste“. Seit wann, wie sieht sein Kita-Alltag dort aus und wie gefällt es ihm?

„In der Regel-Kita konnte Ben nicht ausreichend betreut werden, somit haben wir uns um einen heilpädagogischen Platz bemüht. Seit April dieses Jahres hat Ben dank der Leiterin der „Schatzkiste“, Frau Raecke, einen HP-Platz in ihrer Einrichtung inne. Ben war anfangs überfordert und brauchte durch die Reizüberflutung viele Rückzugsmöglichkeiten und Ruhe. Dies haben die Erzieher erkannt und auch sofort ermöglicht. Ben wurde im Gruppenraum eine Kuschelecke eingerichtet, auch die noch benötigte Milchflasche wurde ihm nach Bedarf zugestanden. So konnte Ben in seinem Rhythmus eingewöhnt werden. Anfangs benötigte er vormittags noch ein kleines Schläfchen, inzwischen hat er sich an den Ablauf gewöhnt. Auch die Milchflasche wird jetzt tagsüber nur noch selten gebraucht. Seit Ben in der HP-Gruppe ist, hat er enorme Fortschritte gemacht. In dieser Zeit hat er gelernt selbstständig zu laufen, Ben wirkt außerdem aufmerksamer und geduldiger, beim Planschen in der Sonne hat er auch schon mal Blickkontakt zu seiner Erzieherin gesucht. Die Erzieherinnen gehen auf die Bedürfnisse ein, so darf er zum Beispiel vor dem Frühstück noch seinem Bewegungsdrang auf dem abgegrenzten Flur freien Lauf lassen. Zu Beginn der Eingewöhnung konnte Ben noch nicht verstehen, warum er im Gruppenraum bleiben musste. Die Frustration war sehr groß, Ben weinte viel, war ausschließlich auf die Tür fixiert und wollte diese stets öffnen. Mittlerweile lässt er sich auch im Gruppenraum beschäftigen und akzeptiert meist, dass die Tür auch mal geschlossen sein muss.

Ben geht in der Kita zweimal wöchentlich zur angestellten Logopädin. Ein- bis zweimal wöchentlich hat er Physiotherapie. Dafür kommt eine Physiotherapeutin in die Einrichtung. Sobald die beim Sozialamt beantragte Frühförderung genehmigt wird, bekommt Ben in der Kita auch noch von der Autismusambulanz Besuch. Dass diese ganzen Therapiestunden innerhalb der Kita stattfinden können, erleichtert uns die Regelung des Alltages und gewährleistet für Ben einen geregelten Tagesablauf."

Was genau macht die Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. und warum sind Sie in dem Verein aktiv?

„Die Phelan-McDermid-Gesellschaft berät und unterstützt betroffene Familien und versucht die Öffentlichkeit über das Syndrom aufzuklären. Sie wurde durch Eltern von betroffenen Kindern gegründet. Der Verein arbeitet mit der PMD-Spezialsprechstunde der Klinik für Neurologie im Universitätsklinikum Ulm zusammen. Auch die Forschungsabteilung ist eng mit der Spezialsprechstunde und dem Verein vernetzt. Das alle zwei Jahre stattfindende Familientreffen wird durch diesen Verein organisiert. Dabei finden viele Fachvorträge von Ärzten, Forschern und Experten auf Gebieten wie Unterstützte Kommunikation oder Autismus-Spektrums-Störung statt. Der Verein dient als Netzwerk für Betroffene. So war beispielsweise zum diesjährigen Treffen eine der  Namensgeberinnen des Syndroms, Dr. Katy Phelan aus Amerika, und die Vorsitzende der Phelan-McDermid Syndrome Foundation, Sue Lomas (ebenfalls aus Amerika) zu Besuch.

Wir sind unmittelbar nach der Diagnose Mitglied geworden. Bei der letzten Mitgliederversammlung wurde eine Arbeitsgruppe für Öffentlichkeitsarbeit gegründet. Diese versuchen wir zu unterstützen.
Wir haben einen Familien- und Elterntreff in Leipzig für Betroffene der Region gegründet. Dort können die Kinder zusammen spielen, während sich die Eltern austauschen.“

Was möchten Sie Betroffenen, wie z. B. Eltern mit auf den Weg geben?

„Bei Kindern mit Auffälligkeiten in der Entwicklung sollte frühzeitig das Sozialpädiatrische Zentrum einbezogen werden. Dort erfolgen regelmäßige Untersuchungen und das Kind wird in seiner Entwicklung von Spezialisten verschiedener Fachbereiche begleitet. Eine frühzeitige Diagnose ermöglicht die besten Therapie- und Fördermöglichkeiten. Das SPZ kann dann auch Therapiegeräte und Hilfsmittel wie spezielle Therapiestühle, Buggys oder Dreiräder verordnen. Auf Grund der anerkannten Behinderung können Schwerbehindertenausweis bei der Stadt und Pflegegrad bei der Pflegekasse beantragt werden. Die heilpädagogischen Plätze in der Kita sind für Kinder mit Behinderung durch den erhöhten Betreuungsschlüssel und die erweiterte Qualifikation der Erzieher besonders gut geeignet.

Betroffene aus Leipzig und Umgebung können sich an die Selbsthilfekontakt- und Informationsstelle der Stadt Leipzig wenden. Dort kann auch der Kontakt zu unserem Familientreff hergestellt werden.

Die Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V. ist über die Website www.22q13.info zu erreichen. Für Betroffene gibt es außerdem eine geschlossene Facebook-Gruppe, welche ebenfalls durch den Verein verwaltet wird.

Wir möchten alle Betroffenen und Angehörigen ermutigen, mit ihren Einschränkungen oder einer Behinderung offen umzugehen, sich auszutauschen und Unterstützung zu suchen. Wir wissen, dass Untersuchungstermine, Behördengänge, Antragsverfahren, Verordnungen usw. viel Kraft und Geduld erfordern, aber die Fortschritte und Entwicklungen entschädigen den Aufwand.

Zum Schluss möchten wir allen ans Herz legen, trotz der anspruchsvollen Bedürfnisse unserer Kinder, sich auch mal eine Auszeit zu gönnen und auf sich selbst zu achten, um neue Energie zu tanken. Hierbei kann zum Beispiel Freizeitassistenz, Entlastungshilfe, Haushaltshilfe oder Kinderbetreuung genutzt werden. Auch eine Mutter-/Vater-Kind-Kur kann sowohl für Mama oder Papa und Kind hilfreich und entlastend sein.“

Was ist Ihr größter Traum?

„Ein Geschwisterchen für Ben!

Wir hoffen, dass die Forschung weiter voranschreitet. Es wurden schon Erfolge erzielt, insbesondere bei der Erforschung der betroffenen Gene und deren Funktion, um das Syndrom besser zu verstehen.

Wir wünschen uns, dass sich unser Kind weiterhin gut entwickelt und integriert wird. Einen großen Beitrag leistet dabei auch die Kita Schatzkiste. Einen besonderen Dank an die Kita-Leiterin Frau Raecke und an die Erzieherinnen.

Ich wünsche mir, dass mein Kind irgendwann sprechen und ich endlich seine Stimme hören kann.

Ob Ben eine Schule besuchen oder später eine Arbeit aufnehmen wird, ist für uns noch in weiter Ferne. Wir möchten, dass er ein selbstbestimmtes Leben führen kann, aber stellen uns auch der Aufgabe, dass Ben ein Leben lang auf Unterstützung angewiesen sein wird.

 

Und zum Schluss: Ben, wir lieben dich über alles, mit all deinen Besonderheiten und Bedürfnissen. Wir sind sehr stolz auf dich und du hast unser Leben bereichert.

Wir danken unserem Verein, der Phlean-McDermid Gesellschaft e.V., der uns so liebevoll aufgenommen hat und allen Unterstützern.“